Kleine Erzählungen

Happy Home 3:35

Happy Home 335

Nie wieder. Nie wieder würde ich sie so sehen. So friedlich, so schön. Mein Verstand wusste es genau. Dreifünfunddreißig und sie hatte die Augen geschlossen. Die Lider bedeckten diese wundervollen Augen. Selbst im Dunkeln nahm ich genug Schemen wahr, konnte mir sogar so viele Details wie die Wimpern einbilden. Es war nur schwaches Licht im Raum, das von draußen durch die Vorhänge zu uns herein drang, von der Straße, den Sternen, vielleicht auch vom Mond kam. Doch mehr brauchte ich nicht. Falsch. Nicht einmal das wenige Licht brauchte ich. In meinem Geiste sah ich, wie sie die Augen geöffnet hatte und mich anblickte. Wäre ich ein Künstler gewesen, ich hätte sie aus meiner bloßen Erinnerung heraus malen können. Malen, wie sie mich fragend ansahen, kritisch, neugierig. Wenn sie lachte, grinste, und ihre Augen mit lachten, mit grinsten. Wie sie mich anblickte, wenn ihr ganzes Gesicht so wunderschön strahlte, dass mir das Herz für einen Moment stehen blieb, um dann mit doppelter Geschwindigkeit in einen aufgeregten, freudigen Spurt hinein zu tanzen. Aber so sehen würde ich sie wohl nie wieder. Mein Verstand wusste es genau.

Ihr regelmäßiger Atem beruhigte mich wieder. Hüllte mich mit seinem Klang ein, wie in einem schützenden Kokon. Langsam, aber gleichmäßig, ruhig und kräftig zugleich. Leise, aber in dem Zimmer nicht zu überhören, erfüllte dieses Geräusch des Lebens den ganzen Raum. Mich hörte man nicht, weil ich versuchte meinen eigenen Atem so flach und lautlos wie möglich zu halten, nur um den ihrigen noch deutlicher zu hören. Vierelf und trotz allem verspürte ich Hoffnung in mir aufkommen. Nie wieder würde ich sie so sehen. Das wusste mein Verstand genau. Dennoch war da dieser beruhigende Klang in meinem Geiste, wie Geigenspieler, die ein hoffnungsvolles Lied anstimmten. Die so sanft über ihre Instrumente strichen, so sanft wie ich sie jetzt am liebsten gestreichelt hätte. Zärtlich über ihre weichen Wangen – aber es nicht tat, sie nicht wecken wollend. Sie drehte sich mit einem kleinen Seufzer auf die Seite, wandte mir den Rücken zu. Ich rückte nach, nach, nur nach, um ihr näher zu sein. Doch mit Vorsicht, um sie blos nicht in ihren Träumen zu stören. Bald würde die Sonne aufgehen, bald müsste ich aufstehen. Zum letzten Mal mit ihr an meiner Seite. Der Gedanke daran vertrieb die Violinisten wieder, drängte sie zurück. Vierfünfundfünfzig, und im Lied in meinem Kopf nahmen Becken und Gitarrenriffs wie Schläge zu. Nie wieder, schrien meine Gedanken. Wie soll ein Mensch so etwas ertragen?

Ich blickte auf den zierlichen Körper, der sich unter der Decke abzeichnete, und empfand schon jetzt das Gefühl der unerfüllten Sehnsucht, die sich bereits bemerkbar machte, als ich sie noch gar nicht vermissen dürfte. Als sie noch da war. Eine Sehnsucht, die sich aber sicherlich auch noch mit jeder Minute verstärken würde, Tag für Tag, Woche um Woche, Monat über Monat. Doch die aufgeregten, vielleicht gar aufgewühlten Töne in meinen Gedanken konnte ich wieder ein wenig beruhigen. An Schlaf war nicht zu denken, aber schlafen wollte ich auch nicht. Ich wollte nur alles bewusst erleben, so bewusst es noch ging. Es war dieser Moment, in dem sie sich wieder drehte, über den Rücken, auf die andere Seite, erneut mit einem sanften Seufzer. Durch ihre geschlossenen Lider sah sie mich direkt an. Fünfvierzehn und eine kleine Tonfolge spielte DiDaDu-Daa-Diiii-Duuuuuu-…. Sie klang verspielt und irgendwie mit einem angenehmen Beigeschmack der Fröhlichkeit unterlegt. Mit meinen Augen tastete ich im Dunkeln über ihre süße Nase, die zarten Lippen, über die so ein fröhliches Lachen kommen konnte. Für einen Augenblick verlor ich mich in diesen Sekunden, die folgenden Minuten verschwanden in ihnen, bevor ich wieder auf die Uhr blickte. Ich hatte das Gefühl, ich hätte mich nur ganz kurz im Anblick ihrer feinen Züge verloren. Doch es war nur eine Ablenkung gewesen. Der Sturm aus Gitarrenriffs war unverändert in meinem Hinterkopf gespielt worden, das DiDaDu hatte ihn nur ein paar Minuten mit Hoffnung unterlegt. Die Uhr sagte Fünfzwanzig, und die fröhliche Tonfolge verschwand wieder im Tosen der Akkorde. Ich wusste, dass mir die Zeit davon rannte. Ich wusste, ich würde sie nie wieder so sehen. Ihre Lippen öffneten sich leicht, die Lungen füllten sich etwas mehr mit Luft, die Lider flatterten für einen Atemzug. Was sie wohl träumte? Sie wirkte friedlich, schien von dem Sturm so nah bei ihr nichts mitzubekommen.

Angestrengt laserte ich mir das Bild ins Gedächtnis, und das nächste, und das nächste. Ich konnte nicht sicher sein, was nach dieser Nacht bleiben würde. Fünfachtundzwanzig. Das Lied in meinem Kopf wurde immer leiser. Nicht wissend woher sie kam, hieß ich die zurück gewonnene Ruhe willkommen. Als wollte mir mein Kopf erlauben, die letzten Minuten vollends auszukosten. Es fühlte sich an, wie über ein ruhiges Meer das ausgebreitete Glitzern der aufgehenden Morgensonne zu beobachten. Wie den Frieden, den ich dabei in der Vergangenheit empfand, den glänzenden Teppich auf kleinen Wellen, zusammen mit dem aufsteigenden orangegelben Feuerball zu betrachten. Ihr Anblick zog mich nicht weniger in den Bann, erfüllte mich nicht weniger mit Wärme. Tief ins Mark, meine Gedanken durchdringend und in mir diesen Funken der Hoffnung noch tiefer einpflanzend. Fünffünfundfünfzig. Die Gitarrenriffs, das Schlagzeug, das Lied, praktisch nicht mehr zu hören.

Dann war es Sechs. Ich hatte den Wecker nur Augenblicke bevor er losgegangen wäre ausgeschaltet – ich wollte sie nicht stören. Denn nur für mich allein war es Zeit aufzustehen und zu gehen. Ein letztes Mal ihren zierlichen Körper im Schlaf betrachtend, eingekuschelt in ihre dünne Decke, streifte ich die meinige vorsichtig von mir. Noch einmal versuchte ich alles auf einmal zu tun, was ich in dieser Nacht bereits gemacht hatte. Ich dachte an die Schönheit ihrer Augen, ihr strahlendes Gesicht, wenn sie Freude empfand, ich versuchte für wenige Sekunden ihrem Atem zu lauschen, um mich an ihrem Leben nicht weniger fest zu klammern, als sie selbst. Alles versuchte ich gleichzeitig, um das allerletzte Mal von diesem Moment zu kosten. Von diesem Frieden, um sicher zu gehen, dass etwas von diesem Augenblick für immer in mich aufgenommen würde. Mit etwas Glück konnte ich die Eindrücke und Gefühle speichern, mich festklammern am DiDaDu und den Violinen. Denn nie wieder würde ich sie so sehen können, die Musik vielleicht nie mehr hören können. Das wusste mein Verstand genau, das Lied in meinem Kopf war zu Ende gespielt. Doch trotzdem empfand ich Hoffnung.

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